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Auf der Flucht
"Die Frauen und Kinder haben schreckliche Bilder gesehen. Von Toten und Verletzten", sagt Dr. Sophia Berthuet, Abteilungsleitung Integrations- und frauen*spezifische Hilfen bei unserem Mitglied Condrobs. In der Unterkunft für geflüchtete Frauen*, einem Paritätischen Kooperationsprojekt von Condrobs, der Frauenhilfe München und profamilia, sind aktuell 30 Frauen und zehn Kinder aus der Ukraine untergebracht. Wie es ihnen geht und was sie jetzt brauchen, darüber haben wir mit Sophia Berthuet gesprochen.
Frau Dr. Berthuet, bei Ihnen in der Paritätischen Unterkunft für Frauen* in München sind seit ein paar Wochen auch Frauen und Kinder aus der Ukraine untergebracht.
Momentan haben wir circa 30 Frauen, davon zehn Mütter mit zehn Kindern bei uns. Jetzt kommen noch von zwei Frauen die Mütter nach, weil sie nicht gemeinsam flüchten konnten. Unter den Frauen sind auch vier Studentinnen aus der Ukraine, zwei aus Marokko und zwei aus Nigeria. Wir haben aber auch immer noch viel Fluktuation: Die Frauen kommen, sind manchmal nur ein paar Tage bei uns und reisen dann weiter zu Familie oder Bekannten.
Wie kommen die Frauen zu Ihnen in die Unterkunft?
In München ist es so, dass alle Geflüchteten am Hauptbahnhof mit Bussen oder Zügen oder auch dem eigenen Auto ankommen. Meistens aus Berlin. Die Stadt hat im Hotel Regent am Hauptbahnhof das erste Ankommen organisiert. Das Amt für Wohnen und Migration, das die Bettplätze für Geflüchtete für München verwaltet, weist dann die Geflüchteten den Unterkünften zu.
Die Zuweisung zu Ihnen in die Unterkunft ist derzeit also nicht von einer besonderen Vulnerabilität oder Schutzbedürftigkeit der Frauen und Kinder abhängig?
Ja. Normalerweise ist es schon so, dass die Frauen, die zu uns kommen, einen besonderen Bedarf haben oder einen Schutzraum brauchen. Aber in der Schnelligkeit, mit der das jetzt alles passiert ist, war dafür keine Zeit. Dazu müsste man ja mit den Frauen zuerst Gespräche führen, um herauszufinden, welche Bedarfe sie haben.
Hatten Sie schon die Möglichkeit herauszufinden, welche Bedarfe die Frauen und Kinder, die jetzt bei Ihnen in der Unterkunft sind, haben? Welche Erfahrungen sie auf der Flucht gemacht haben?
Die Frauen und Kinder haben schreckliche Bilder gesehen. Von Toten und Verletzten. Wir sehen bei manchen Kindern, die bereits ein paar Tage bei uns sind, dass sie verhaltensauffällig sind. Zum Beispiel, weil sie viel schlafen. Und manche Frauen entwickeln eine Art Überaktivität, um sich und ihre Gedanken abzulenken. Wir werden aber erst nach und nach dazu kommen, mit den Frauen und Kindern im Gespräch herauszufinden, welche Unterstützung und Beratung, welche medizinische und psychologische Versorgung sie brauchen. Denn dafür braucht es Ruhe und Zeit.
Aber ein paar Dinge, die wir schnell angehen müssen, kristallisieren sich schon heraus. Das ist zum einen, mit den Kindern über das Erlebte zu sprechen und es pädagogisch, spielerisch zu verarbeiten. Und zum anderen, den Müttern Hilfen an die Hand zu geben, wie sie mit den eigenen Erlebnissen und ihren eventuell traumatisierten Kindern gut umgehen können. Da gibt es auf jeden Fall Bedarf und da braucht es auch Unterstützung für die Frauen und Kinder im Hilfesystem.
Für die Traumabewältigung gilt: Je schneller man da dran ist, umso besser! Ziel muss sein, den Frauen und Kindern ein Gefühl von Sicherheit zu geben. Was natürlich schwierig ist, weil bei den meisten die Väter und Männer noch in der Ukraine sind und Angst deshalb ein ständiger Begleiter ist…
Was kann dabei helfen, ein Gefühl von Schutz und Sicherheit zu geben?
Die Mütter haben ein großes Interesse, dass die Kinder wieder eine Tagesstruktur haben. Das sind dann so Fragen wie Kita und Schule. Da müssen wir schnell und flexibel Möglichkeiten finden, dass die Kinder wieder einen geregelten Alltag und ein Stück Normalität haben.
Stellen Sie im Vergleich zu den Frauen, die Sie sonst in Ihrer Unterkunft haben, Unterschiede in den Bedarfen fest?
Grundsätzlich sind das Bedarfe, die wir kennen. Bei den Frauen, die wir sonst in der Unterkunft haben, erleben wir ja zum Teil massive posttraumatische Belastungsstörungen. Zum Beispiel, weil die Frauen massive Gewalterfahrungen sexueller oder auch psychischer Natur gemacht haben. Solche schweren, tiefgehenden Traumata sehen wir bei den aktuell Geflüchteten aus der Ukraine nicht. Ob jedoch – je länger der Krieg in der Ukraine dauert, je länger Menschen im Kriegsgebiet sind, bevor sie fliehen können – auch mehr stark traumatisierte Frauen und Kinder zu uns kommen werden, das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Herausfordernd ist momentan eher, dass es alle zwei Tage neue Regelungen gibt. Aber damit kann man gut umgehen: Das ist in der jetzigen Situation einfach so.
Was uns überrascht hat ist, dass die Frauen aus der Ukraine wahnsinnig motiviert sind, Deutsch zu lernen. Auch das Interesse an unseren Informationsveranstaltungen ist groß. Wir bieten schon länger einen Deutschkurs bei uns in der Einrichtung an: Der war sofort gut besucht. Ein Grund dafür könnte sein, dass die Verständigung momentan sehr schwierig ist, weil die Frauen kaum Englisch sprechen, viele Frauen aber den Wunsch haben, selbstbestimmt und eigenverantwortlich ihren Alltag zu gestalten und nicht abhängig zu sein. Der Bildungsgrad unter den Frauen ist auch sehr hoch. Die Frauen, die wir sonst in unserer Unterkunft haben, die sind teilweise so stark traumatisiert oder waren so lange auf der Flucht, dass sie Wochen brauchen, bevor sie überhaupt in der Lage sind, ihr Leben wieder selbst in die Hand nehmen zu können.
Mit Ihrem Konzept und Ihrem Angebot sind Sie also gut auf die Frauen und Kinder aus der Ukraine eingestellt. Was brauchen Sie sonst in der aktuellen Situation?
Personal! (lacht) Was es sonst braucht – und zwar relativ schnell – sind muttersprachliche Angebote an psychologischer Betreuung und Beratung. Für die Frauen und die Kinder, aber auch Mutter-Kind-Angebote. Im ersten Schritt wären auch niedrigschwellige aufsuchende Angebote wichtig, die zu den Frauen kommen. Bevor es eine Komm-Struktur gibt, zu der man gehen kann. Tagesstruktur für die Kinder ist - wie bereits gesagt - wichtig.
Für uns als Einrichtung ist wichtig, um das alles mit dem vorhandenen Personal überhaupt schaffen zu können, dass es effektive Organisationsstrukturen und kreative Lösungen gibt. Zum Beispiel Sammeltermine für die Registrierung oder Beantragung von Leistungen, die wenig Personalressourcen binden. Wir haben da zum Glück einen festen Kreis von ehrenamtlichen Helferinnen, der uns bei solchen Dingen auch unterstützt.
Stichwort Ehrenamt: Wie erleben und erfahren Sie als Unterkunft konkret die Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Gesellschaft?
Wir haben zum Beispiel einen Spendenaufruf für Sachspenden im Stadtteil gemacht, als klar war, dass Geflüchtete aus der Ukraine zu uns kommen. Da kam sehr viel zusammen: Jacken, Schuhe, Kleidung, Spielzeug, Gläser, Besteck und Töpfe für die Küchen… Es wäre natürlich schön, wenn wir jetzt auch unseren Kreis von ehrenamtlichen Helferinnen weiter ausbauen könnten.
Was braucht es Ihrer Meinung nach, um dieses tolle ehrenamtliche Engagement, wie wir es gerade erleben, für unsere Gesellschaft zu erhalten und zu verstetigen?
Ich finde wichtig, dass es für die Menschen, die jetzt gerade Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen haben, auch eine Anlaufstelle gibt – für Informationen, bei Problemen etc. Zum einen, ist es nicht so einfach, dieses ganze bürokratische Dickicht zu durchschauen. Und zum anderen, kann man auch als Engagierter selbst leicht in die Überforderung kommen. Zum Beispiel, wenn traumatisierte Kinder, die man aufgenommen hat, verhaltensauffällig sind. Wichtig wäre auch, die private Unterbringung offiziell und – soweit möglich – durchgängig zu registrieren, um zum Beispiel Missbrauch vorzubeugen.
Dieses Engagement ist wichtig. Es wäre schade, wenn wir es verlieren würden, weil sich Engagierte allein gelassen fühlen, ein schlechtes Gewissen haben, weil sie nicht so helfen können, wie sie gerne wollen, oder nicht die notwendige Unterstützung erhalten. Die Engagierten übernehmen ja eine große Verantwortung für die Geflüchteten und unsere Gesellschaft.
Die Unterkunft für geflüchtete Frauen* in München Neuperlach wurde 2016 als Paritätisches Kooperationsprojekt von Condrobs, der Frauenhilfe München und profamilia gegründet und war die erste Einrichtung, die geflüchteten Frauen und ihren Kindern einen besonderen Schutzraum bot. Der Bedarf wurde 2015 besonders deutlich, als viele Menschen vor dem Krieg in Syrien flohen. Das Kooperationsprojekt hat das Ziel die Sicherheit für besonders schutzbedürftige Menschen in allen Flüchtlingsunterkünften zu gewährleisten.
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