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Der Suchtdruck steigt
505 Jahre wird es morgen alt, das bayerische Reinheitsgebot für Biere. Doch was für die einen Genuss, ist für andere ein gefährliches Suchtmittel: Bier bzw. Alkohol. Wie es trockenen Alkoholiker*innen in der Corona-Pandemie momentan geht, darüber haben wir mit Angela Hebendanz, Leiterin der Guttempler-Gemeinschaft in Hirschaid gesprochen.
Wie geht es trockenen Alkoholiker*innen gerade in der Corona-Pandemie?
Gerade für Menschen, die noch nicht so lange weg sind vom Alkohol, ist es momentan besonders schwer. Zum Beispiel, wenn sie gerade von der Entgiftung kommen. Diese Menschen müssen eigentlich ihr Leben völlig umstrukturieren, Leerräume ausfüllen und neue Beziehungen aufbauen. Das Problem ist, dass das jetzt so schwer möglich ist: Man kann sich schlecht ablenken, man kann nicht zum Sport gehen, man kann keine neuen Menschen kennenlernen. Sondern man ist wie eingesperrt. Und die alten Freunde sind häufig auch die alten „Saufkumpanen“…
Man merkt ja, wie belastend die momentane Situation für alle ist. Auch für diejenigen von uns, die kein Suchtproblem haben. Für jemanden, der seine Probleme bisher mit einem Suchtmittel, mit Alkohol gelöst oder gedämpft hat, ist das eine riesen Herausforderung. Der Griff zur Flasche geht da schnell.
Menschen, die noch nicht lange weg sind vom Alkohol, haben also momentan ein höheres Risiko, rückfällig zu werden?
Passieren kann es jedem. Aber jemand, der erst seit kurzen trocken ist, hat natürlich ein höheres Risiko. Auch, weil momentan keine Gesprächskreise oder Selbsthilfegruppen in Präsenz stattfinden.
Wie bleiben Sie in Ihrer Gruppe derzeit untereinander in Kontakt?
Wir treffen uns einmal pro Woche per Video. Als Ersatz für unsere sonst in Präsenz stattfindenden Treffen in der Gruppe „Friesener Warte“. Aber ich kenne auch viele Gruppen, die gar nichts machen oder nur ab und zu mal eine Telefonkonferenz. Das hängt auch vom Altersdurchschnitt in den Gruppen ab. In der Videokonferenz sieht man sich wenigstens. Wir machen aber auch Einzelgespräche aus, wenn jemand gerade in der Krise steckt, und gehen zum Beispiel spazieren.
Sind die Videokonferenzen ein vollwertiger Ersatz für die persönlichen Treffen?
Nein. Es ist eine ganz andere Art der Unterhaltung. Jeder kann nur einzeln reden, vieles geht unter, wenn sich jemand nicht aktiv zu Wort meldet oder immer nur die anderen reden lässt. Wenn man sich persönlich trifft, dann kann man halt doch besser fragen: „Was ist denn los mit Dir? Du bist heute so still. Du schaust heute so: Hast Du ein Problem?“ Die digitale Begegnung kann den persönlichen Kontakt nicht ersetzen. Zumindest nicht langfristig.
Ihr Gesprächskreis ist ein offenes Angebot. Das heißt, jeder und jede die will, kann einfach vorbeikommen, mitmachen, nach Hilfe fragen. Wie erreichen Sie diese Menschen jetzt?
Vor Corona standen Menschen immer mal wieder bei uns spontan in der Tür oder haben uns angerufen. Das hat sich jetzt geändert: Momentan kommen vor allem Menschen zu uns, die einen Entzug in der Klinik hinter sich haben oder ihren Führerschein entzogen bekommen haben und die direkt an uns verwiesen werden. Dass die Leute nicht mehr spontan zu uns kommen oder uns auch schnell wieder verlassen, hat meiner Meinung nach schon etwas damit zu tun, dass unser Gesprächskreis momentan nicht in Präsenz stattfinden kann. Es fehlt einfach die persönliche Anbindung und Motivation. Manche sagen mir auch, dass sie lieber abwarten, bis die Gruppe wieder aufmacht.
Was bedeutet das für die Zukunft der Gruppen?
Ich weiß von Gruppen, in denen vor allem ältere Menschen sind, dass sie wahrscheinlich gar nicht mehr aufmachen werden. Viele der älteren Betroffenen benötigen die Gruppen bezüglich der Abstinenz nicht mehr. Und selbst, wenn die Gruppen wieder stattfinden können, bleibt es schwierig, mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Gruppen zu kommen.
Das heißt, wir erleben gerade eine Art „Gruppensterben“ in der Selbsthilfe?
Ja. Aber wo etwas stirbt, entsteht ja auch was Neues. Wo eine Tür sich schließt, geht eine andere auf. Wir verlegen unsere Aktivitäten deshalb auch stärker ins Digitale und suchen neue Wege, Betroffene zu erreichen. Zum Beispiel mit den SoberGuides, einer Internetplattform, auf der geschulte Ehrenamtliche aus der Suchtselbsthilfe beraten und begleiten. Dort erreichen wir dann auch jüngere Zielgruppen.
In der Selbsthilfe für alkoholkranke Menschen ist der Altersdurchschnitt relativ hoch. Wo sind die jüngeren Betroffenen?
In jungen Jahren ist die Alkoholsucht meistens noch nicht so ausgeprägt. Bzw., bis man merkt, dass man Hilfe braucht, bis der Leidensdruck so groß ist, dass man es selbst oder Angehörige nicht mehr aushalten, der Führerschein weg ist, bis es Probleme mit dem Arbeitgeber gibt – bis dahin können viele Jahre oder Jahrzehnte vergehen. Deshalb ist auch in den Selbsthilfegruppen der Altersdurchschnitt hoch. In diese „alten“ Gruppen junge Menschen zu kriegen, ist ein Problem. Denn die Menschen müssen sich ja in der Gruppe wohlfühlen. Und nicht das Gefühl haben, dass sie zu ihrem Opa gehen! (lacht)
Dazu kommt, dass es bei den Jüngeren den „reinen Alkoholiker“ kaum noch gibt. Meistens sind da auch andere Drogen und Probleme mit im Spiel.
Sie sehen die Situation also auch als Chance für die Selbsthilfe, sich neu zu orientieren und vermehrt auch jüngere Zielgruppen früher zu erreichen?
Ja, als Chance vor allem, dass Menschen nicht über viele Jahre immer wieder in die Entgiftung müssen. Und als Möglichkeit, niedrigschwellige Angebote zu entwickeln und auszubauen. Zum Beispiel in Form von Chats. Oder Hotlines, wie unser Nottelefon, das 24 Stunden am Tag für Betroffene und Angehörige da ist.
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