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Kinder brauchen eine Lobby
Kinder und Jugendliche tendieren dazu, zu kooperieren, sich an die Umwelt anzupassen, die Gegebenheiten zu akzeptieren. Aber was passiert mit einem Menschen, wenn er seine Bedürfnisse dauerhaft um- oder zurückstellt? In der Pandemie für die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen wieder Raum zu schaffen, sei jetzt wichtig, sagt Christian Kuhn von unserer Mitgliedsorganisation Verein für sozialpädagogische Jugendbetreuung e.V.
Herr Kuhn, nach vielen Wochen ist jetzt der Präsenzunterricht an den Schulen wieder gestartet. Wie leicht oder schwer fällt es Kindern, an die Zeit vor dem Lockdown anzuknüpfen?
Ich denke, dass es älteren Kindern und Jugendlichen zumindest vom sozialen Aspekt her leichter fällt, wieder Anschluss zu finden. Dem gegenüber gibt es Klassenstufen, die kaum in Präsenz zusammen waren. Für diese Kinder ist es schwerer, sich wieder in das Gruppengefüge einzufinden. Für Kinder, bei denen soziale Kompetenzen gut ausgeprägt sind, ist das weniger ein Problem. Andere, die da Defizite haben, tun sich schwerer.
Dazu kommt der Druck, gegebenenfalls Lernstoff auf- und nachzuholen …
Ja, die inhaltlichen und formalen Herausforderungen kommen da noch oben drauf. Und da herrscht ja häufig auch noch Unklarheit, wer welche Leistungsnachweise bis zum Ende des Schuljahres erbringen muss oder kann. Was zusätzlich verunsichert.
Haben Sie den Eindruck, dass die Schulen ausreichend Ressourcen und Zeit haben, auf diese sehr verschiedenen und individuellen Probleme und Fragen der Schüler*innen einzugehen?
Das kann man nicht pauschal beantworten und wahrscheinlich hängt es auch einfach sehr stark vom jeweiligen Lehrer*in ab. Denn diese Aufgaben kommen ja zum normalen Schulalltag dazu. Und der war an manchen Schulen schon vor Corona herausfordernd oder vom Fachkräftemangel geprägt.
Ich habe schon den Eindruck, dass an vielen Schulen momentan im Vordergrund steht, dass alle erstmal wieder ankommen dürfen und geschaut wird, mit welchen Problemen, Lücken und Fragen die einzelnen Schüler*innen zurück an die Schulen kommen. Die Anforderungen an die Lehrer*innen sind definitiv nicht geringer geworden …
Wie hat sich die Pandemie psychisch auf Kinder und Jugendlichen ausgewirkt hat. Haben psychische Belastungen zugenommen?
Wir beobachten seit einigen Jahren, dass psychiatrische Krankheitsbilder unter Kindern und Jugendlichen zunehmen. Ob das auch daran liegt, dass schneller und öfter diagnostiziert wird, lässt sich schwer sagen. In der Pandemie sind die psychischen Belastungen für Kinder und Eltern gestiegen.
Was für Belastungen sind das?
Das sind zum Beispiel depressive Episoden oder Angststörungen. Für manche Kinder und Jugendliche – egal ob vorbelastet oder nicht - war da die Pandemie eine Art Beschleuniger bei der Entwicklung von psychischen Erkrankungen. Viele Kinder haben auch Angst vor Corona oder erleben und verinnerlichen die Angst der Eltern und Familien vor der Krankheit.
Halten Sie die Möglichkeiten der Schulen, auf diese Herausforderungen zu reagieren, sie aufzufangen für ausreichend?
Wir wussten ja, dass wir in diese Situation kommen. Und wenn man in die Zukunft schaut, wissen wir auch, dass wir wieder in die Situation kommen werden, wenn es im Herbst wieder Distanz- oder Wechselunterricht geben soll. Das Wichtigste, was ein*e Lehrer*in braucht, sind Zeit und eine gute Beziehung zu den Kindern. Dann kann man natürlich mit Beratungsstellen oder dem Jugendamt zusammenarbeiten. Aber auch das ist wieder ein zusätzlicher Aufwand.
Das Problem ist: Zuallererst sind Lehrer*innen ja in der Pflicht, den Lehrplan einzuhalten! Und da wird es dann zu einer Frage der Haltung, was ich als Lehrer*in in den Mittelpunkt stelle, wenn ich merke, ein oder mehrere Kinder kommen mit sozialen oder psychischen Problemen zurück in meine Klassen: das Wohlergehen des Kindes oder den Lernstoff?
Was wünschen Sie sich, damit wir im Herbst und einer möglichen 4. Welle nicht wieder in derselben Situation sind wie heute? Damit das Wohlergehen von Kindern nicht allein von den individuellen Ressourcen und Möglichkeiten einzelner Lehrer*innen abhängig ist. Es geht ja auch um Chancengerechtigkeit allen Kindern gegenüber …
Dazu muss der Fokus überhaupt erstmal auf den Bildungssektor gerichtet werden. Es braucht ein gesellschaftliches Bewusstsein und dann natürlich entsprechende Rahmenbedingungen und Mittel. Der Tenor momentan ist ja, dass man das mit dem Distanzunterricht doch eigentlich ganz gut hingekriegt hätte. Da fehlt aber komplett die Perspektive der Kinder! Wir brauchen eine ehrliche Bestandsaufnahme.
Und was wünschen Sie sich ganz konkret?
Es muss sichergestellt werden, dass die Kinder im Herbst in die Schule gehen können bzw. dass die Schulen zumindest immer mit einem Teil der Kinder regelmäßig im persönlichen Kontakt stehen. Mit Hygienekonzepten, Impfungen und Lüftungsanlagen. Aber auch der technischen Ausstattung für Online-Unterricht und Standards, wie so ein virtueller Unterricht bestenfalls aussehen sollte.
Klar, für Politik ist es auch nicht einfach, die richtigen Entscheidungen zu treffen: So eine Pandemie ist keine komfortable Situation. Aber verschiedene Szenarien und zu den Szenarien verschiedene Pläne und Maßnahmen zu entwickeln - das wäre wünschenswert.
Warum ist der persönliche Kontakt so wichtig?
Weil Lernen durch soziale Interaktionen und im sozialen Kontext geschieht. Virtuelle Interaktionen gehören da auch dazu. Aber virtuell bekomme ich den ganzen Menschen ja gar nicht mit, mit all den Sinnen, die ich dafür brauche.
Für ältere Kinder und Jugendliche ist die Peergroup ganz wichtig, um eine eigene Identität auszubilden und für die psychische Entwicklung und die Persönlichkeitsentwicklung. Die ist mit der Einschränkung von Kontakten auch eingeschränkt. Das ist also ein Lernschritt oder eine Entwicklungsaufgabe, die durch die Pandemie beeinträchtigt sein könnte. Bei kleineren Kinder funktioniert Lernen viel über Mimik und die Reaktionen anderer Menschen. Da sind die Masken einfach ein Problem.
Auch wenn wir die Auswirkungen noch nicht konkret kennen, wissen wir, dass die Kontaktbeschränkungen und fehlende persönliche Kontakte grundsätzlich nicht gut sind für Kinder. Deshalb sollten wir auch nicht auf die Analyse der Folgen warten, sondern jetzt Maßnahmen einleiten und präventiv arbeiten.
Vor welchen besonderen Herausforderungen standen denn Kinder und Jugendliche, für die das Leben schon vor Corona schwieriger als für andere war? Zum Beispiel in Ihren Wohngruppen?
Die Ausgrenzung, die schon vorher da war, hat sich durch Corona nochmal verschärft. Teilhabe ist noch schwerer geworden. Bei uns in der Einrichtung waren zeitweise Besuche gar nicht erlaubt. Da reicht es nicht, Menschen in prekären Lebenslagen mit Tablets oder Laptops zu versorgen. Man muss Sorge dafür tragen, dass sie mit anderen Menschen in Kontakt bleiben können.
Ist den Kindern und Jugendlichen in ihren Einrichtungen bewusst, was für einen tollen Teil sie dazu beigetragen haben, dass wir als Gesellschaft so gut durch die Pandemie gekommen sind? Wollen sie dafür jetzt auch mal gehört und mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen werden?
Da sage ich eher pessimistisch: Nein. Denn Kinder und Jugendliche tendieren ja eher dazu, zu kooperieren, sich an die Umwelt anzupassen, die Gegebenheiten zu akzeptieren, ihre Bedürfnisse zurückstellen.
Aber was passiert mit mir, wenn ich meine Bedürfnisse dauerhaft um- oder zurückstelle? Empfinde ich das dann irgendwann als „normal“? Wie wirkt sich so etwas auf mich persönlich und das soziale Miteinander aus? Wir sind deshalb als Gesellschaft und Erwachsene gefordert, für die Bedürfnisse von Kindern und Jugendliche wieder Raum zu schaffen und sie zu fördern. Kinder und Jugendliche brauchen eine starke Lobby, die sich für sie hinstellt und dafür sorgt, dass sie gehört und beteiligt werden.
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