Licht am Horizont?
22.07.2021 Themen Ältere Menschen Arbeit und Beschäftigung Bildung Gesundheit Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen Pflege

Licht am Horizont?

Zum 1. Januar 2020 ist sie gestartet: die generalistische Ausbildung zur Pflegefachfrau bzw. zum Pflegefachmann. Aus drei Berufsbildern - Krankenpflege, Kinderkrankenpflege und Altenpflege – hat sie eins gemacht. Vieles sollte einfacher und besser mit der neuen Ausbildung werden. Wie es in der Praxis läuft, darüber haben wir mit Rainer Schreier von unserer Mitgliedsorganisation Arbeiter-Samariter-Bund Kreisverband Coburg Land gesprochen.

Foto: Adobe Stock leno2010

Herr Schreier, wie viele Auszubildende haben Sie momentan in der generalistischen Pflegeausbildung?

Bei uns haben zum 1. September 2020 sechs Auszubildende in der neuen Pflegeausbildung angefangen - verteilt auf zwei Pflegeheime mit einmal 27 und einmal 60 Betten. Das heißt, wir bilden mehr aus, als wir selbst als Eigenbedarf haben.

Sie leben als Einrichtung also auch das Motto der neuen Pflegeausbildung: Kooperation statt Konkurrenz. Entscheidend ist nicht, wer den*die Auszubildende*n letztlich bekommt. Sondern das ausgebildet wird. Wie läuft das bei Ihnen in der Praxis?

In der Region Coburg gibt es einen Kooperationsverbund, den der Landkreis Coburg initiiert hat. Dafür sind wir alle unendlich dankbar. Denn dieser Verbund verbindet eine Vielzahl an ambulanten und stationären Einrichtungen inklusive den Krankenhäusern in der Region sowie die drei Pflegefachschulen. Allein die Schulen untereinander zu koordinieren, ist eine Herausforderung. Zum Beispiel, wenn es um die Einteilung der Praktika bzw. der Auszubildenden in der ambulanten und stationären Pflege geht. Dass da die einzelnen Einrichtungen und Dienste nicht plötzlich zu wenige oder zu viele Auszubildende haben, muss gut koordiniert werden. Da gibt es eine verantwortliche Mitarbeiterin im Verbund.

Das klingt nach einem hohen Koordinierungsaufwand…

Die Kommunikation und Koordination ist natürlich eine Herausforderung. Und auch der Regulierungsaufwand ist hoch: Wir arbeiten an gemeinsame Standards, es müssen Leitlinien für die Praxisanleitungen in den einzelnen Einrichtungen entwickelt und Merk- und Informationsblätter erstellt werden – damit die Auszubildenden, wenn sie die Einrichtung wechseln, nicht ständig mit neuen Bedingungen und Voraussetzungen konfrontiert werden. Und auch die Einrichtungen Handlungssicherheit haben. Wer meinte, dass die neue Pflegeausbildung reibungslos anlaufen würde, der hat sich geirrt…

Die Investitionskosten sind also hoch. Würden Sie sagen, die Investition lohnt sich? Sehen Sie am Horizont, dass man die Ziele erreichen wird, die man mit der neuen Ausbildung verfolgt?

Wir hoffen darauf! Sonst würde man sich die Mühe nicht machen. Wir sehen aber auch, dass unsere Praxisanleitungen in die Überforderung laufen, weil die Erfahrungen fehlen und es noch so viele Baustellen gibt, an denen nachjustiert werden muss. Aber: Wir sind guter Dinge, weil wir im Gespräch mit den anderen Wohlfahrtsverbänden in der Region sind und „Anpassungsbedarfe“ auch anmelden. Ich bin aber schon überzeugt, dass wir noch gute zwei bis drei Jahre brauchen, bis eine gewisse „Trittfestigkeit“ entstanden ist.

Und wie zufrieden sind die Auszubildenden mit der neuen Ausbildung?

Einige Auszubildende sind froh über die generalistische Ausbildung, weil sie einen Mehrwert für sich erkennen. Das frustriert dann manchmal die Auszubildenden, die noch nach dem alten System lernen.

Man muss aber auch sehen, dass so ein regionaler Ausbildungsverbund natürlich auch „behäbiger“ als eine einzelne Einrichtung ist. Und wie die bundesweite Gesetzgebung vor Ort umgesetzt wird, ist ja auch jedem überlassen. Da gibt es auch schon mal Konflikte und Reibungspunkte. Wenn sich aber alles mal eingespielt hat, wird die neue Ausbildung nachhaltiger und besser sein, als die alte.

Es gibt Bereiche in der Pflege, die Sorge haben, mit der neuen Ausbildung bei den Auszubildenden hinten runter zu fallen. Zum Beispiel die Kinderkrankenpflege oder ambulante Dienste. Teilen Sie diese Sorge?

Nein. Es gibt bei uns jetzt schon Auszubildende, die vorhaben, in die Altenpflege oder zu einem ambulanten Dienst zu gehen. Die sich ganz bewusst dafür entscheiden. Zumal sich das auch mit den Tariflöhnen besser aneinander anpassen wird. Wer ins Krankenhaus will, ist auch früher schon ins Krankenhaus gegangen. Dieses Problem der Konkurrenz um Fachkräfte untereinander muss sich über die Quantität der Ausbildung regulieren.

Das war ja auch ein Ziel der Reformierung: Mehr Auszubildende für die Pflege gewinnen. Ist das gelungen?

Die paar Prozent mehr Auszubildende deutschlandweit lösen das Problem nicht. Was wir in zehn Jahren versäumt haben, werden wir in einem Jahr mit ein paar Prozent nicht ausgleichen. Wenn Sie mich das in fünf Jahren nochmal fragen und bis dahin auch größere Einrichtungen mehr ausbilden, dann haben wir in weiter Zukunft eine Chance. Aber nicht kurz- und mittelfristig.

Wo sehen Sie in der neuen Ausbildung Knackpunkte und Nadelöhre, an denen nachjustiert werden muss?

Bei den ambulanten Pflegediensten, bei denen insbesondere die kleinen Dienste nur begrenzt Auszubildende für Praxiseinsätze aufnehmen können. Da sind die Touren das Problem: Die müssen mit einer Fachkraft besetzt sein. Und das zweite Problem ist, dass diese Touren größtenteils von Teilzeit-Fachkräften bedient werden, aber der*die Auszubildende in Vollzeit beschäftigt ist. Wo bekommt der*die Auszubildende seine Einsatzzeit her, wenn die Tour nach sechs Stunden beendet ist?

Aber das größte „Nadelöhr“ wird die Kinderkrankenpflege sein. Ich denke, hier muss nochmal bei der Dauer des Einsatzes nachjustiert werden, damit mehr Praxiseinsätze möglich werden. Man muss jetzt Erfahrungen sammeln – und dann aber auch etwas ändern!

Jetzt kommt die neue Pflegeausbildung ja auch nicht gerade zu einem günstigen Zeitpunkt: Pflegekräfte haben 1,5 Jahre Corona-Krise auf dem Buckel…

Ja, das war und ist gerade für die Praxisanleitungen eine große Herausforderung, neben den zusätzlichen Belastungen in der Pflege auch noch die neue Ausbildung auf die Beine zu stellen. Gerade für diejenigen, die aufgrund der Anzahl der Auszubildenden im Betrieb nicht als Praxisanleitung freigestellt werden können, sondern in der Kombination Schichtdienst und Praxisanleitung arbeiten müssen. Der organisatorische Aufwand für den Aufbau der Ausbildung, die vielen Besprechungen mit den Schulen, mit den anderen Ausbildungsbetrieben, das Festlegen von Standards et cetera pp – das ist unterschätzt worden. Wir müssen aufpassen, dass wir unser Personal nicht überfordern – und verlieren.

Auch die Ausbildung zum Praxisanleiter ist lang und es ist unklar, wie die finanziert wird. Müssen das die Einrichtungen selbst stemmen? Über ihre normalen Pflegesätze? Und die Arbeitszeit, die durch die lange Ausbildungszeit wegfällt, die ersetzt Ihnen ja auch keiner.

Da muss man nochmal über ein paar Details sprechen und nachbessern. Denn: Wer keine Lust auf diesen Aufwand hat, der bildet einfach nicht aus. Gerade größere Einrichtungen, die sehr wirtschaftlich orientiert sind, zahlen lieber den Ausbildungszuschlag, tun sich aber die Arbeit, selber auszubilden, nicht an. Auch ambulante Pflegedienste scheuen den Aufwand, weil die Ausbildung mit der Tourenplanung kompliziert ist.

Das wird auf Dauer ein Problem werden. Nur auf das Engagement derjenigen Einrichtungen, die die Sinnhaftigkeit im Ausbilden sehen und erkennen, kann und darf man sich nicht verlassen. 

Mit dem Aufruf des Videos willigen Sie ein, dass Daten an YouTube übermittelt werden. Weitere Informationen hierzu finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Themen Ältere Menschen Arbeit und Beschäftigung Bildung Gesundheit Menschen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen Pflege