Der Paritätische Gesamtverband veröffentlicht regelmäßig einen Armutsbericht, warnt vor dem immer stärkeren Auseinanderdriften der Gesellschaft und fordert die Politik zum Handeln auf. Regelmäßig wird der Paritätische Wohlfahrtsverband – vor allem in den konservativen Medien – dafür kritisiert. Der Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands Georg Cremer warf dem Verband gar Skandalisierung vor. Ulrich Schneider konterte: „Armut kann man nicht skandalisieren. Armut ist der Skandal.“

Armutsgefährdung ist gestiegen

Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist nicht der einzige, der regelmäßig über Armut berichtet. Auch das Statistische Bundesamt tut dies jedes Jahr. Zuletzt am 22. September 2016: „Armutsgefährdung in Westdeutschland im Zehn-Jahres-Vergleich gestiegen“. Demnach lag die Armutsgefährdungsquote im Jahr 2015 in allen westdeutschen Bundesländern außer Hamburg über dem Niveau des Jahres 2005. Der Anstieg des Armutsrisikos in den letzten zehn Jahren war in Nordrhein-Westfalen am stärksten. In Bayern ist es von 11,4 auf 11,6 Prozent gestiegen. Insgesamt lag im Jahr 2015 das Armutsrisiko bei 15,7 Prozent in Deutschland. Das sind 0,3 Prozent mehr als im Jahr 2014.

Armut in Bayern

Von Einkommensarmut am stärksten betroffen waren in Bayern im Jahr 2015 gemessen am Landesmedian

Erwerbslose: 50,3 Prozent

Alleinerziehende: 45,6 Prozent

Einpersonenhaushalte: 26,3 Prozent

Frauen über 65: 24,4 Prozent

Menschen mit Migrationshintergrund: 24,3 Prozent

Rentner: 22,4 Prozent

Familien mit drei und mehr Kindern: 20,9 Prozent

Die Datenbasis, die der Paritätische Gesamtverband verwendet, ist die gleiche wie die des Statistischen Bundesamtes. Datengrundlage zur Ermittlung der Armutsgefährdungsquote in Deutschland ist der Mikrozensus, eine jährlich groß angelegten Befragung von Haushalten durch das Statistische Bundesamt.

Armut - relativ oder absolut?

Im Gegensatz zum absoluten Armutsbegriff, der Armut an existentiellen Notlagen wie Obdachlosigkeit oder Hunger festmacht, ist die Armutsgefährdungsquote ein relativer Armutsbegriff. Das Konzept relativer Einkommensarmut geht davon aus, dass Armut in unterschiedlich wohlhabenden Gesellschaften unterschiedlich aussieht und durch gesellschaftlichen Ausschluss und mangelnde Teilhabe gekennzeichnet ist – nicht erst durch Elend.

Kritik am relativen Armutsbegriff

Es gibt drei Hauptargumente, die Kritiker des relativen Armutsbegriffs immer wieder anführen. Diese können jedoch widerlegt werden.

Wenn alle hundertmal mehr Einkommen hätten, wäre die Armutsgefährungsquote immer noch diesselbe.

Das erste Argument lautet: Wenn alle in Deutschland hundertmal mehr Einkommen pro Monat hätten, wäre die Armutsgefährdungsquote immer noch dieselbe. In einem Land der Ferrari-Fahrer wäre ein BMW-Fahrer arm. Dieses Argument lässt sich in zweifacher Hinsicht widerlegen.

Zum einen muss man sich die Höhe des zur Verfügung stehenden Einkommens anschauen. In Deutschland gilt ein Single als armutsgefährdet, wenn er weniger als 942 Euro pro Monat verdient (gemessen am Bundesmedian). Damit kann man sich keinen BMW leisten, um im Bilde der Kritiker zu bleiben. In Bayern liegt die Schwelle für Singles bei 1.025 Euro; für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2.153 Euro (gemessen am Landesmedian). Bedenkt man, wieviel Geld davon in vielen Städten Bayerns allein für die Miete gezahlt werden muss, wird klar, dass es gerade für das Nötigste reicht.

Im Jahr 2013 hat die Bertelsmann Stiftung eine Studie zu diesem Thema veröffentlicht. Demnach hat eine Familie, die weniger als 60 Prozent des ortsüblichen mittleren Einkommens verdient, in 60 der 100 größten Städte nach Abzug der Miete im Durchschnitt weniger Geld zur Verfügung als eine Hartz IV-Familie. In Regensburg zum Beispiel steht einer Familie nach Zahlung der Miete 26 Prozent weniger Geld zur Verfügung als mit Hartz-IV, in Würzburg 18 Prozent, in München und Augsburg 14 Prozent weniger. Seit Veröffentlichung der Studie hat sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt deutlich verschärft. Für einkommensschwache Familien wird es immer schwieriger, geeigneten, finanzierbaren Wohnraum zu finden. Und: Auch Familien, die laut Statistik nicht als armutsgefährdet gelten, müssen jeden Euro zweimal umdrehen. Da relativiert sich der in der Kritik stehende relative Armutsbegriff. Deutschland ist eben kein Land der Ferrari-Fahrer.

Zum anderen: Wenn alle in Deutschland hundertmal mehr Einkommen hätten, wäre das Preisniveau deutlich höher und damit auch die Inflation. „Wer glaubt, während der Hyperinflation in den 1920er Jahren hätten die Menschen in größerem Wohlstand gelebt, weil sie ein Einkommen in Milliardenhöhe bezogen haben, der glaubt auch, dass ein Zitronenfalter Zitronen faltet“, schrieb einer der Autoren des Paritätischen Armutsberichts in einem Gastkommentar in der Frankfurter Rundschau.

Die einzelnen Regionen Deutschlands kann man nicht miteinander vergleichen.

Das zweite Hauptargument der Kritiker lautet: Man könne einzelne Regionen Deutschlands überhaupt nicht miteinander vergleichen. So seien in Berlin die Lebenshaltungskosten ganz andere als in München. Regionale Preisunterschiede fänden keine Berücksichtigung.

Um die Bundesländer miteinander vergleichen zu können, wird der Bundesmedian zu Grunde gelegt. Demnach liegt die Armutsgefährdung in Bayern bei 11,6 Prozent, bundesweit bei 15,7 Prozent. Zum Vergleich: In Berlin, das neben dem Ruhrgebiet als Armenhaus Deutschlands gilt, liegt die Armutsgefährdungsquote bei 22,4 Prozent. Sie ist also fast doppelt so hoch. Legt man den Landesmedian zugrunde, ist die Armutsgefährdung im reichen Bayern mit 15 Prozent fast so hoch wie im armen Berlin mit 15,3 Prozent (im Jahr 2015).

Es ist sinnvoll, sich die regionalisierten Daten anzuschauen, um ein umfassendes Bild der Einkommensarmut zu erhalten. Die amtliche Sozialberichterstattung weist die Zahlen anhand der Landesmediane, der Bezirksmediane und der Mediane von Großstädten aus. Zur Veranschaulichung ein Vergleich zwischen Berlin und München:

 

BundesmedianStadtmedian
Berlin22,4 Prozent15,3 Prozent
München9,6 Prozent19,1 Prozent

Legt man also das mittlere Einkommen der Stadt zugrunde, ist die Armutsgefährdung in München deutlich höher als in Berlin.

Die Armutsgefährdungsquote ist so hoch, weil auch die vielen Studierenden dazu zählen.

Das dritte Argument lautet: Die Armutsgefährdungsquote sei so hoch, weil auch die vielen Studierenden dazu zählen, von denen doch niemand ernsthaft behaupten könne, dass sie arm seien. So hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass „praktisch alle … Studierenden, die in einem eigenen Haushalt leben, per Definition einkommensarm“ seien, obwohl sie doch dank ihrer Bildung gute Zukunftsaussichten hätten.

Ulrich Schneider widerlegt dieses Argument mit Daten aus der Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks: „Es sind gerade einmal 47 Prozent der Studierenden, die 2012 allein, in einer WG oder in Untermiete lebten und damit das angesprochene Klischee erfüllen.“ Von denen verfügten 37 Prozent über ein Einkommen, das über der Armutsschwelle liegt. „Es werden bei weitem nicht so viele Studierende als arm mitgezählt, wie die Kritik Glaubens machen will. Zum Teil, weil sie einfach nicht arm sind, zum Teil weil sie in dem den Armutsberechnungen zugrunde liegenden Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes gar nicht erfasst werden. Ebenso wenig übrigens wie Obdachlose, arme alte, pflegebedürftige und behinderte Menschen in Einrichtungen oder Asylbewerber in Sammelunterkünften.“

Armutsgefährdungsquote europaweit anerkannt

Die Armutsgefährdungsquote ist ein europaweit anerkannter Indikator zur Bemessung der Einkommensarmut. Als armutsgefährdet gilt, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) der Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik (Bundesmedian) oder einzelner Bundesländer (Landesmedian) auskommen muss. Grundlage ist das gesamte Nettoeinkommen eines Haushalts – also inklusive Kindergeld, Kinderzuschlag, Wohngeld oder anderer Transferleistungen. Durch die europaweit einheitliche Anwendung der Definition kann die Armutsgefährdung in den einzelnen europäischen Ländern verglichen werden.


Susann Engert

Referentin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit